Es mag sich vor der Wahrheit verstecken wer das will – aber Stationshilfen im AKH sowie Ersatzkassiere im KHM fungieren oft als Puffer und Blitzableiter menschlicher Schwächen. Es sind die menschlichen Schwächen jener die unseren Arbeitsplatz als Patienten oder als Gäste betreten, denen wir in unserem Dienst ausgesetzt sind. Den eigenen Schwächen, so werden wir geschult, vorbereitet und ermahnt (soweit möglich) – gilt es hingegen in jeglicher Konfliksituation nicht nachzugeben.
Wie solche Situationen entstehen, ablaufen – und wenn man genug Humor hat, ins Absurde abdriften – will ich heute den Lesern der Kulturfüchsin (nicht ohne gewisse Genugtuung) erzählen. Insbesondere eingedenk der Corona-Krise, die uns Alle auf eine Probe stellt, die wir so nicht erwartet haben . . .
Der Anfang vom Ende
Tatsächlich war es für mich jedes Mal ein fast schon heiliger Augenblick, wenn wir, die Crew des Kunsthistorischen Museums zu Wien, den Schließvorgang einleiteten. Ein Vorgang, der in der architektonischen Planung eines Museum bereits mitgedacht wurde – denn wie sonst könnte es gelingen, dass eine derart geringe Anzahl von Menschen, eine viel größere Anzahl von Menschen, in geordneter Weise, in kurzer Zeit aus dem Museum befördert und sicherstellt, dass kein Gast aus Versehen – oder böser Absicht – über Nacht mit dem Kulturerbe all dieser Völker alleine bleibt?
Doch – trotz allem – es ist keine leichte Aufgabe: auch in Zeiten der all-sehenden, hochauflösenden Digitalkameras und diverser anderer nicht-optischer Spürsysteme, welche den Kollegen in der Sicherheitszentrale als elektronische Tentakeln zur Verfügung stehen. Doch darum geht es hier nicht! Für mich als Ersatzkassier war es stets der letzte Akt des Tages, den wir mit jener würdevollen Autorität und Besonnenheit zu erledigen hatten, zu der man als Saalaufsicht angehalten ist. Die oberste Direktive lautet:
„Wir verkaufen das Erlebnis Museum!“
Es war und ist der letzte Akt, die Krönung einer erfolgreichen Bemühung, den Kunstschatz der Nation auch an diesem Tag vor Schaden bewahrt zu haben und zur Freude aller Menschen zugänglich zu halten. Ein Akt, der stets mit Stolz erfüllt – und eine Gratwanderung, die nur mit würdevoller Autorität gelingen kann. Meistens jedenfalls …
General Custers Last Stand in der Kunstkammer
An jenem Tag – an dem ich auf die Probe gestellt werde – sind es nur Bernard Blier und ich, die mit dem Schließen der Kunstkammer befasst sind. Ein Teil davon ist wegen der Vorbereitung für eine Sonderausstellung geschlossen, sodass zwei von uns genügen, um die Kunstkammer zu schließen. Alle Gäste schlendern in die selbe Richtung: zur Drehtüre und der dahinter liegenden Treppe hinunter zum Vestibül. Es ist ein gemütlicher und würdevoller Schließvorgang, wie aus dem imaginären Lehrbuch für uns Ersatzkassiere und Gästebetreuer. Fast …
Denn gerade als der letzte Gast durch die Drehtüre geht und Bernard Blier schon zum Funkgerät greift, um die Freigabe für die elektronische Sicherung durchzugeben, stürmt ein Trupp Amerikaner, angeführt von einem Fremdenführer, der – ich schwöre es bei allen Göttern der ägyptischen Antikensammlung – aussieht wie ein junger Baden Powell, auf uns zu. Der junge Powell drückt auf die Drehtür in deren Segment ich gerade stehe. Die Tür kommt meiner Nase näher, bis ich mich entgegenstemme um ein Schädeltrauma zu verhindern.
Dann stottere ich:
„We just closed down the collection…. Sir…!“
Was er antwortet, trifft mich vollkommen unvorbereitet:
„I dont care! It´s ten minutes to six and you close at six and I´m gonna get in!“
Unmittelbar nach seinem Ausruf, beginnt er wieder gegen die Drehtüre zu schieben. Mit aller Kraft und Macht eines 1,80 Meter messenden Pfadfinders. Es ist präzise 17:51 Uhr.
Ich kenne das aus dem Kroatienkrieg: wenn du gezwungen wirst schnell zu denken. In so einem Moment siehst du nicht dein Leben als Filmstreifen, sondern ein Optionenmenü wie bei Terminator 1. Alles jedoch nicht logische Abfolge, sondern als scheinbar chaotische Assoziationskette, die mit Überlichtgeschwindigkeit vorbei rast. (Und auch die Option „Fuck Off you Asshole!“ beinhaltet.)
In meinem Inneren läuft es in etwa so ab:
Boah! Der ist aber groß!
Wo ist Bernard Blier?
Ok! Bernard Blier ist erstarrt und glaubt´s genauso wenig wie ich!
Wasmachich!? Allahu Ekber sagen?
Vernunft!? Ja! Vernunft!
Und Logik!
Du verkaufst das Erlebnis Museum! Lebe den Slogan!
Sag „Ja!“ zum Leben!
Was ist jetzt vernünftig?
Theseus ist vernünftig!
Er hat eine Keule!
Die Vernunft trägt eine Keule!
Wo ist meine Keule!? Denk nach! Der Boy Scout ist einsachtzig!
Was ist sein innerstes Selbst, Agent Starling?
Er ist ein Amerikaner!
Was fürchten die Amerikaner!
BINGOOOOOOOOOOOOOOO!
Ich gebe meinen Widerstand auf, lasse die Drehtüre auf meinen Kopf zukommen in stoischer Ergebenheit und sage laut und deutlich auf englisch:
„If you hurt me, I am going to sue you“ – was so viel heißen soll wie: „Wenn sie mir wehtun, werde ich sie verklagen!“
Mit würdevoller Strenge…
Das ist im Übrigen ein echter Slogan aus dem Verhaltenskodex für die Mitarbeiter des KHM. So sei der Gast zu mahnen, wenn er sich daneben benimmt – alles mit würdevoller Strenge.
Der Boy Scout erstarrt zu einem Freezeframe und dann geschieht dasselbe, was geschieht, wenn man auf einem alten Videorecorder den Rewind-knopf drückt. Bernard Blier ist aus seiner Starre erwacht und sieht mich an. Ich sehe Bernard an und sage:
„Hab ich jetzt echt gesagt: Wenn sie mir wehtun, verklage ich sie?“
Bernard nickt.
„Ja das hast du gesagt!“
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